ADHS und Autismus im Schiesssport

Der Schweizerische Schiesssportverband (SSV) setzt neue Massstäbe in der inklusiven Sportausbildung. Mit dem neuen Modul «ADHS/Autismus» erhalten Trainer*innen praxisnahes Wissen und konkrete Werkzeuge, um neurodivergente Kinder und Jugendliche gezielt zu fördern.

Im Interview erklären Roland Steiner, Leiter Bereich Ausbildung und Conny Blaser-Kunz, Ressortleiterin Jugendausbildung und J+S-Verbandscoach, wie das Modul entstanden ist, welche Stärken der Schiesssport bietet und welche Vision sie für eine inklusivere Sportlandschaft haben.

Roland & Conny (3)
Conny Blaser-Kunz und Roland Steiner

Was hat euch bewegt, das Modul «ADHS/Autismus» zu entwickeln?

Conny: Der Auslöser war die Beobachtung, dass viele Kinder und Jugendliche mit ADHS oder Autismus im Vereinsalltag anecken und oft mehr Kritik als Verständnis erfahren. Wir wollten ein Angebot schaffen, das ihnen einen sicheren Raum gibt, in dem sie so sein können, wie sie sind - einfach wunderbar - und das den Leitenden gleichzeitig zeigt, welches grosse Potenzial in diesen Kindern steckt. Für mich ist das eine echte Herzensangelegenheit.

Roland: Durch die Fachstelle Inklusion von Swiss Olympic kam dieses Thema zusätzlich auf unseren Radar. Plötzlich wurde uns bewusst, wie viele Menschen mit Beeinträchtigungen bereits in unseren Vereinen aktiv sind. Schnell rückten ADHS und Autismus in den Fokus. Da uns das nötige Fachwissen fehlte, suchten wir den Austausch mit PluSport und erhielten dort wertvolle Unterstützung.

Conny: Aus dieser Zusammenarbeit entstand das Modul. Wir möchten J+S-Leitende, interessierter Regelsportverbände und Lehrpersonen sensibilisieren. Neurodivergente Kinder machen es nicht mit Absicht! Das Beste daran ist, dass für diese Zielgruppe notwendige Anpassungen wie klare Strukturen, visuelle Hilfen oder gezielte Aufmerksamkeitslenkung nicht nur ihnen den Zugang erleichtern, sondern allen Kindern zugutekommen.

Conny & PluSport
Conny Blaser-Kunz und Joena Parkinson (esa-Expertin, PluSport)

Warum eignet sich der Schiesssport so gut für Menschen mit ADHS oder Autismus?

Roland: Die repetitiven Abläufe sind ideal. Der Sport verlangt Konzentration, Kraft, Ausdauer und Disziplin. Jeder Schuss zeigt sofort, wie fokussiert jemand war. Studien zeigen, dass Betroffene ruhiger werden, weniger Ausraster haben und sich besser konzentrieren können. Wenn sie diese Strategien in den Alltag übertragen, profitieren sie spürbar davon. Dazu verweise ich gerne auf einen Bericht im Schiessen Schweiz: Issuu Reader.

Conny: Im Vergleich zu Teamsportarten bietet der Schiesssport klare Strukturen und vorhersehbare Abläufe. Das gibt Sicherheit und reduziert Überforderung. Gleichzeitig können Stärken wie Hyperfokus oder detailgenaues Arbeiten zum Tragen kommen. Die ruhige Trainingsumgebung unterstützt zudem die Selbstregulation durch Atemtechnik und Körperkontrolle.

Welche Erkenntnisse nehmt ihr aus der ersten Durchführung des Ausbildungsmoduls mit und sind weitere Kurse geplant?

Conny: Der Selbsterfahrungsparcours zu Beginn hat vielen Teilnehmenden die Augen geöffnet. Sie erlebten praktisch, was es heisst, mit ADHS oder Autismus durchs Leben zu gehen. Schon nach kurzer Zeit waren die ersten überfordert, konnten kaum noch klar denken und erkannten, wie schwer es neurodivergente Kinder im Schul- und Sportalltag haben.

Diese Erfahrungen spiegeln sich auch in den Rückmeldungen der Teilnehmenden wider. Mia Büttler, Leiterin Geräteturnen beim TV Wiedikon, beschreibt: «Der Kurs hat mir vor Augen geführt, wie schnell Überforderung entstehen kann. Wir können im Geräteturnen mit kleinen Anpassungen viel bewirken.»

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Roland: Der Pilotkurs war sofort ausgebucht und kam sehr gut an. Wir haben gemerkt, wie gross der Bedarf ist und wie viele Fragen auftauchen. Das werden wir in den nächsten Durchführungen berücksichtigen. Unser Ziel ist es, den Kurs im kommenden Jahr vier bis sechs Mal durchzuführen.

Wie verlief die Zusammenarbeit mit PluSport und dem BASPO beim Aufbau des Kurses?

Roland: Das Thema stösst überall auf Interesse. PluSport und das BASPO haben uns sehr schnell und wohlwollend unterstützt. Dafür sind wir sehr dankbar.

Warum wurde der Kurs offen ausgeschrieben?

Roland: Wir suchen bewusst den Austausch mit anderen Verbänden. Gemeinsame Ausbildungen bringen unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen zusammen. Das ist für alle ein Gewinn. Wir übernehmen die Organisation und profitieren vielleicht beim nächsten Mal von einer Ausbildung eines anderen Verbandes.

Welche gesellschaftliche Verantwortung seht ihr für euren Verband im Umgang mit Inklusion?

Roland: Unser Leitsatz lautet: Schiessen für alle. Wir wollen sowohl Schütz*innen als auch Ausbilder*innen praktische Hilfestellungen geben. Durch die offene Ausschreibung stärken wir die Zusammenarbeit mit anderen Sportarten und profitieren von ihren Erfahrungen.

Conny: Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Bild des gepackten Schiesskoffers auf der Innenseite des Deckels – mit dieser kleinen visuellen Hilfe können Kinder viel selbstständiger arbeiten. Schritt-für-Schritt-Anleitungen oder Checklisten geben Routine und damit Sicherheit. Solche einfachen Anpassungen machen den Unterschied.

 

Interview vom 15. Dezember 2025