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Lachen gegen Lampenfieber
Jörg Wetzel hat das Swiss Olympic Team als Sport- und Notfallpsychologe an zehn Olympische Spiele begleitet, von Turin 2006 bis Paris 2024. Was ist heute anders als damals? Und wie gelingt es eigentlich, dass Athletinnen und Athleten dann ihre Bestleistung zeigen, wenn der Druck am grössten ist? Persönliche Gedanken und Anekdoten über die neue Leichtigkeit in einem vermeintlich schweren Thema.
«Die Schützin Chiara Leone wurde auch deshalb Olympiasiegerin in Paris, weil sie eine gesunde Distanz zu ihrem grossen Ziel entwickelt hatte. Ich etwa hatte ihr mit auf den Weg gegeben: ‹Wenn du schon schiesst, Chiara, dann denk an die Mitte. Denn es ist so – je näher du in die Mitte schiesst, umso mehr Punkte gibts.› Auch sonst hatte ich ihr immer wieder signalisiert: Ich finde es schon wichtig, dass sie Olympiasiegerin wird. Aber auch nicht sooo wichtig. Und ihr ganzer Staff, insbesondere ihr Trainer hatte diese Ausstrahlung: Die trifft. Und wenn sie nicht trifft, ist es auch nicht so schlimm.
Sie lächelte, traf in die Mitte und gewann Gold.
Es geht um Leichtigkeit, um Humor auch. Das Ziel ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Athletin, der Athlet leicht und sicher fühlen und Kraft tanken kann. Die olympische Bühne ist die grösste, früher wurde den Athleten dann vermittelt: Das ist Olympia, das ist jetzt was ganz anderes, jetzt kommts drauf an, jetzt musst du liefern. Das steigerte den ohnehin schon immensen Druck weiter.
Nun ist es nicht so, dass Leichtigkeit auf Knopfdruck gelingt. Das ist ein Prozess, der über Jahre läuft, mit viel Übung. Mit den Schützinnen arbeite ich schon sehr lange zusammen, wir übten die Kunst des Sichdistanzierens. Sich selbst nicht so ernst nehmen, die Sache nicht so ernstnehmen. Wir haben das in Seminaren und Workshops erarbeitet, Teamevents veranstaltet, gemeinsam Brioche gebacken, gemeinsam gelacht.
Entscheidend ist für mich, dass diese Haltung auch vom Staff authentisch gelebt wird. Es braucht die richtigen Leute an Bord. Dahinter steckt die Überzeugung, dass das Umfeld ein entscheidender Faktor ist für die Persönlichkeitsentwicklung und das Ausschöpfen des eigenen Potenzials. Das Umfeld wirkt immer. Wenn du nervös bist, werden die Athleten nervös. Und wenn du locker bist, hilft ihnen das. Das Team ist die Heimat der Athletinnen und Athleten, die ihnen Kraft und Sicherheit bietet, auch im Einzelsport kannst du so viel Kraft aus dem Team generieren. Bei den Schützinnen arbeitete ich seit acht Jahren deshalb vor allem im Team und nur noch am Rand individuell. Das gilt auch für viele andere Kunden im Sport.

Teamerfolg: Jörg Wetzel (l.) mit Chiara Leone, Goldmedaille und Staff von Swiss Shooting.
Ich bin insgesamt etwas weggekommen von den klassischen psychologischen Methoden nach Schulbuch wie Visualisierungen oder Denken lenken und arbeite mehr mit sogenannten hypnosystemischen Ansätzen, die das Unterbewusstsein ansprechen. Aber letztlich geht es in meiner Arbeit immer um die Frage:
Was ist das Thema? Und welche Methode ist die richtige? Es gibt einen Strauss an Methoden, manchmal hilft Hypnose, manchmal nicht, man muss jede Person und Situation ganzheitlich betrachten. Mit Leichtigkeit allein ist es nicht getan, ohne Leichtigkeit ist es schwer.
Der Escape Plan
Und gerade Leichtigkeit kommt auch mit Erfahrung. Grossanlässe sind Ausnahmesituationen, die man nur bedingt simulieren kann, junge Trainerinnen sind oft nervöser als die Athleten selbst. Je erfahrener ich selbst wurde, umso leichter fiel mir Leichtigkeit, ich habe dabei viel von erfahrenen Teamchefs lernen dürfen.
Irgendwann weisst du, wann du auch mal den rationalen, «korrekten» Weg verlassen darfst oder musst, um jemanden zu entlasten. 2021 in Tokio etwa fühlte sich die Schützin Nina Christen unmittelbar vor dem Final im 50m Dreistellungswettkampf erschöpft und verkrampft. Sie hatte zuvor bereits Bronze mit dem Luftgewehr gewonnen und meinte, sie fühle sich energielos und würde am liebsten gar nicht mehr schiessen. Ich antwortete ihr, dass ich das total nachvollziehen könne und wir nun einen Escape Plan machen: Sie könne mir ihr Gewehr abgeben und durch den Hinterausgang auf den Bus verschwinden, und ich schaue mit dem Backoffice von Swiss Olympic, dass wir sie auf den nächsten Flug nach Hause buchen.
Nina begann kopfschüttelnd zu lachen und sagte: «Bisch e Löu, ich schiess dänk scho». Ah okay, sagte ich, auch gut.

Mit Schützin Nina Christen an den Olympischen Spielen in Tokio.
Vor Ort, in einem solchen Moment Leichtigkeit authentisch vorzuleben, ist hohe Schule und bedingt Erfahrung, Distanziertheit und Gelassenheit. Auch ich kenne das Gefühl der Anspannung, wenn nach jahrelanger Vorbereitung der Moment der Entscheidung ansteht, auch ich bin nicht immer wohl in meiner Rolle.
Nina Christen schoss dann nicht nur, sie gewann das erste olympische Gold im Schiessen für die Schweiz seit 1948.
Damit wir uns richtig verstehen: Hinter den Erfolgen von Chiara und Nina stecken unglaublich viel Arbeit und tausende harte Trainings. Die Rahmenbedingungen wurden optimiert, etwa mit dem neuen nationalen Leistungszentrum in Magglingen, und das ganze Team hat sehr viel für den Erfolg investiert. Aber die Leichtigkeit und der Humor sind ein wichtiger Bestandteil im Gesamtmix. Diese Elemente zu kultivieren im Umfeld, verstehe ich heute als Teil meiner Rolle.
Wenn ich vor 25 Jahren damit auf einen Teamchef zu wäre, hätte der geantwortet: «Was meinst du eigentlich, chli der Plausch ha, cooles Umfeld, und dafür noch abkassieren?»
Wenn heute jemand so reagiert, sage ich: Ja. Genau. Du nicht? Komm, wir machen es doch so. In diesem Klima ist es viel einfacher, zu leisten – und zu reüssieren.
Im Fussball war es schwieriger
So musste ich mir meine Rolle erkämpfen über die Jahre und auch einstecken, das betrifft meine Arbeit als Sportpsychologe insgesamt. Vor allem mit Ralph Stöckli als Chef de Mission von Swiss Olympic fand ich dann einen Förderer, der meinen Weg unterstützte. Und natürlich gab es Sportarten, die sich viel früher öffneten für mentale Aspekte als andere, darunter vor allem Präzisionssportarten wie Schiessen eben, oder Golf, Tennis, Curling. Vor allem im Fussball war es lange viel schwieriger, im Eishockey tendenziell auch.
Vor einigen Jahren hatte ich ein Engagement beim SC Bern. Da musste ich quasi zur Hintertüre hinein, und der damalige finnische Headcoach schien wenig begeistert. Beim ersten Treffen musterte er mich mit grimmigem Blick, der ganze Staff ignorierte mich weitgehend. ‹Bei dieser Körpersprache kriege ich ja Angst›, sagte ich, ‹wenn ihr wollt, dass eure Jungs gewinnen, müsst ihr schon etwas netter in die Welt schauen›. Das fand der Coach witzig und so konnte die Arbeit beginnen – auch hier immer in Gruppen. Heute arbeite ich für die SCL Tigers, der Sportpsychologe ist auch im Emmental absolut salonfähig geworden.

Jörg Wetzel hat den Weg für die Sportpsychologie in der Schweiz vorgespurt – hier 2007 mit Töffpilot Tom Lüthi in Shanghai. (Keystone)
Vielleicht schwingt das Pendel jetzt etwas auf die andere Seite aus. Wenn das Thema mentale Gesundheit quasi zum Hype wird und auch mal für eigene Zwecke missbraucht wird, von nicht-selektionierten Athleten zum Beispiel, müssen wir aufpassen. Niemand wird gezwungen, Leistungssport zu machen, und Leistungssport erfordert Höchstleistung. Die Persönlichkeit ist eine Schlüsselvoraussetzung für diese Leistungserbringung, deshalb arbeiten wir seit 25 Jahren an diesen Persönlichkeiten mit Fokus auf die mentale Gesundheit – also nicht erst, seit das Thema auch medial viel Aufmerksamkeit erhält. Aber jede und jeder weiss, es ist ein Selektionskampf und für alle Befindlichkeiten ist kein Platz in diesem System. Dass die Gen Z überempfindlich sei, nehme ich aber nicht so wahr. Ich denke eher, dass gewisse noch aktive Betreuer aus meiner Gen X mit ihren militärischen Methoden fehlgeleitet sind. Wo eine sehr reglementierte, normierte, kontrollierte Kultur herrscht, wird es schwer mit der Leichtigkeit.
Vier bis fünf Einsätze pro Tag
Es ist auch nicht so, dass ich in Paris 2024 viel mehr zu tun hatte als vor 18 Jahren, bei meinen ersten Spielen in Turin 2006. Im Schnitt hatte ich pro Olympische Spiele konstant rund 80 bis 130 Interventionen, das sind vier bis fünf Einsätze pro Tag. Ich stehe vor Ort in erster Linie als Notfallpsychologe bereit, bin Ansprechperson für alle Delegationsmitglieder und interveniere sportpsychologisch wo nötig und sinnvoll.
Oft sind es Coaches, die in einer Situation nicht weiterwissen, die ich dann zu befähigen versuche im gezielten Umgang mit den Athletinnen und Athleten, die zum Beispiel mit Störungen, Angst oder Selbstzweifeln in der Wettkampfvorbereitung zu kämpfen haben. Aber man muss sich bewusst sein: Menschen, die an Olympischen Spielen antreten, haben auf dem Weg dahin derart viel Resilienz und mentale Stärke beweisen müssen, Hürden übersprungen und Rückschläge kassiert, dass sie zwangsläufig zur sehr robusten und resistenten Sorte gehören.
Am häufigsten geht es um Konflikte – wenn die Luft dünn wird, entzünden sich Konflikte viel schneller. Und weil Konflikte sehr viel Energie beanspruchen, gilt es, diese Feuer so früh wie möglich zu löschen. Im Klima einer erarbeiteten vertrauensvollen Befindlichkeitskultur entstehen sie oft gar. Manchmal habe ich vor Ort festgestellt, dass ein Team diese Hausaufgaben im Vorfeld nicht erledigt hatte, das konnte mich nerven. In der Leichtathletik war etwa die Staffelbesetzung ein Thema, da von sechs Kandidatinnen und Kandidaten letztlich nur je vier antreten können. Da gab es einige Male böses Blut oder Ungereimtheiten, obwohl die Ausgangslage ja allen klar war.
10 Olympische Spiele und – inklusive Nachwuchsanlässe – insgesamt knapp 30 olympische Missionen von Swiss Olympic durfte ich begleiten, doch die Zweifel, ob du den Menschen und Situationen gerecht werden kannst, wirst du nie ganz los. Es gab schlaflose Nächte und schwierige Momente, die wohl herausforderndsten erlebte ich 2010 in Vancouver, als ich zwei schwierige Fälle parallel zu betreuen hatte. Zuerst erlebten Mitglieder des Schweizer Teams mit, wie ein georgischer Rodler im Training tödlich verunglückte, als er mit einer Stahlstange kollidierte. Kurze Zeit später erlebte eine Schweizer Athletin eine akute Krise aufgrund eines persönlichen Verlusts. In solchen krisenpsychologischen Interventionen arbeite ich mit den Betroffenen das Ereignis auf, indem wir sehr offen darüber sprechen und ich die Athletinnen und Athleten unterstütze, alle ihre Emotionen, ihre Ängste, Zweifel und Schmerzen zu äussern.
Das Schönste zum Schluss
Um solche Herausforderungen meistern zu können, musst du dich mental intensiv auf die Spiele vorbereiten. Es gilt, stets klar zu bleiben in deiner Rolle, und dich in dieser auch nie zu sicher zu fühlen. Umso schöner waren für mich dann die Momente, wenn ich dazu beitragen konnte, dass Athleten oder Athletinnen eigene Schwierigkeiten überwinden und gute Leistungen zeigen konnten – unabhängig des Schlussresultats. Zu den schönsten Erinnerungen zählen aber auch die beiden Goldmedaillen von Nina Christen und Chiara Leone. Nicht jede Medaille glänzt, aber diese haben unglaublich geglänzt, das waren ehrliche Siege. Bei Chiaras Triumph kam besonders dieser über Jahre erarbeitete Spirit eines ganzen Teams in seiner schönsten und erfolgreichsten Form zum Ausdruck - Teil dieses Teams sein zu dürfen, war für mich ein Riesengeschenk. Und die Leichtigkeit kam dann auch beim Feiern nicht zu kurz.

Teamspirit in seiner schönsten und erfolgreichsten Form: Feiern mit Chiara Leone.
Dennoch habe ich die Zusammenarbeit mit dem Schiesssportverband nun beendet. Mein Gefühl sagte mir, es ist Zeit für einen Wechsel, auch für sie. Das gleiche gilt für Swiss Olympic. Paris 2024 waren meine letzten Spiele. Es hätte nicht besser enden können, Paris feierte den Sport in seinen schönsten Facetten – und so fällt mir auch der Abschied mit einer Leichtigkeit.»
Aufgezeichnet von Pierre Hagmann, Medienteam Swiss Olympic
Ungefiltert – Geschichten aus dem Schweizer Sport
Offen gesagt: Im Blog «Ungefiltert» erzählen Persönlichkeiten aus dem Schweizer Sport in eigenen Worten von aussergewöhnlichen Momenten und prägenden Erfahrungen. Von Siegen und Niederlagen, im Leben und im Sport. Wir freuen uns über Inputs für gute Geschichten, gerne auch die eigene: media@swissolympic.ch