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Eine Geschichte voller Emotionen
Von ihren Anfängen im Fechtsport im Jahr 2001 bis zu ihrer Medaille bei der Europameisterschaft 2025 hat die Neuenburgerin Pauline Brunner viele intensive Momente erlebt. Hier blickt sie auf die prägendsten von ihnen zurück – von beglückenden Siegen über das Scheitern ihres Studiums bis hin zu den Schokoladenrouladen ihrer Grossmutter. Eine Geschichte über den Spitzensport, fernab von Geld und Rampenlicht.
«Manchmal entscheidet nur eine Kleinigkeit über eine sportliche Karriere. Ich habe 2001 im Alter von sechseinhalb Jahren mit dem Fechten angefangen, obwohl meine Eltern nichts mit diesem Sport zu tun hatten und mich auch nicht darauf gebracht hatten. Wir wohnten in La Chaux-de-Fonds neben einer Fechthalle. Auf dem Weg zum Schwimmbad sah ich dort regelmässig Leute trainieren. Das Schwimmen war nichts für mich. Also bat ich meine Eltern, einmal das Fechten ausprobieren zu dürfen. Mit diesen Masken und den weissen Anzügen zu kämpfen, hat mich besonders fasziniert. So fing alles an – und ich war sofort begeistert.
Seitdem habe ich Höhen und Tiefen erlebt, die wohl zu jeder sportlichen Karriere dazugehören: Ängste und Zweifel, Freud und Leid. Hier möchte ich euch fünf Episoden meines Werdegangs erzählen, die mich besonders geprägt haben.
1. Der erste Gipfel ... und die Schokoladenroulade
2014. Ich bin 19 Jahre alt und bereite mich auf die Junioren-Europameisterschaft vor. Mit meiner Grossmutter habe ich einen Deal gemacht: Ihre Schokoladenroulade ist extrem lecker, doch sie backt diese nur zu Weihnachten und jedes Mal gibt es Streit mit meinen Cousins, um ein Stück davon zu bekommen. Daher hat sie mir versprochen: Wenn ich bei der EM die Bronzemedaille gewinne, bekomme ich eine Schokoladenroulade, wenn ich Silber gewinne, zwei Rouladen – und wenn es Gold wird, sogar drei.
Vor Ort in Jerusalem beginnen die Vorrundenspiele nicht gerade optimal. Ich bin ziemlich gestresst und verliere einmal die Nerven. Doch es geht vorbei und im Verlauf des Wettbewerbs klappt alles immer besser – wie am Schnürchen. Als ich gegen eine Französin antrete, sagt mir mein damaliger Trainer Hervé Faget, ich solle einen Angriff versuchen, den ich sonst nie einsetze. Meine Technik ist daher nicht besonders gut, und doch gelingt er mir. Ich kann es kaum glauben. Ein anderes Mal werde ich von meiner Gegnerin am Ende der Bahn in die Enge getrieben. Ich habe einen Fuss draussen. Mein Trainer und meine Freundinnen auf der Tribüne rufen «Fuss, Fuss, Fuss!», damit ich die Bahn nicht verlasse. In diesem Moment gelingt mir ein Treffer am Fuss meiner Gegnerin.
Schliesslich gewinne ich die Goldmedaille. Es ist der erste grosse Erfolg meiner sportlichen Karriere – die Emotionen sind überwältigend. Und nur wenige Minuten nach meinem Sieg rufe ich meinen Freundinnen zu: «Ich habe drei Schokoladenrouladen gewonnen!»

Nach ihrem Europameistertitel wird Pauline Brunner von der Stiftung Schweizer Sporthilfe zur besten Nachwuchsathletin der Romandie 2014 geehrt und gehört in der nationalen Kategorie zu den Finalistinnen: (v.l.n.r.) Jorinde Müller (Skicross), Corinne Suter (Ski Alpin), Pauline Brunner und Sarah Hornung (Schiessen). (Keystone-ATS)
2. COVID: Der Tiefpunkt
2020. Das Coronavirus ist da und nichts läuft mehr wie gewohnt. Die Fechtwelt macht Pause und ich habe ohne Wettkämpfe keinen Spass mehr daran – und ich sehe auch keinen Sinn mehr darin, täglich zu trainieren. Zudem habe ich zum zweiten Mal eine Prüfung an der Universität nicht bestanden. Dieses Ergebnis hat eine schwerwiegende Konsequenz: Ich bin endgültig durchgefallen und darf mein Studium im Fach Psychologie nicht fortsetzen. Vor einigen Jahren hatte ich mit Chemie begonnen, zuerst an der EPFL und später an der Universität Freiburg. Doch ich brach ab, denn ich hatte mich für ein anderes Fach entschieden. Das jetzige Psychologiestudium gefiel mir wirklich gut und ich stand kurz vor dem Abschluss meines Bachelors. Der Rückschlag ist daher schwer zu verkraften. Ich habe genug davon, die Hälfte von dem, was ich tue, zu vermasseln.
Im Jahr 2021 finden endlich wieder Wettkämpfe statt. Aber für mich bleibt es auch in sportlicher Hinsicht kompliziert. Ich habe es nicht geschafft, mich für das Zonenturnier für die Olympischen Spiele in Tokio zu qualifizieren – meine letzte Chance, an den Spielen teilzunehmen. Ich stelle mir viele Fragen. Ist es an der Zeit, alles aufzugeben? Ich stehe kurz davor.
Doch ich entscheide mich dagegen. Schliesslich habe ich mit der Wiederaufnahme der Wettkämpfe zumindest ein neues Ziel vor Augen. Denn was spricht dagegen, einen weiteren Olympiazyklus zu absolvieren und zu versuchen, mich für die Spiele in Paris 2024 zu qualifizieren? In der COVID-Pause konnte ich etwas Geld sparen. Dank der Stiftung Schweizer Sporthilfe, der Fondation Sport NE, der Loterie Romande und einigen anderen Sponsoren komme ich zum ersten Mal ohne die finanzielle Unterstützung meiner Eltern aus. Zwar ist mein Einkommen nicht übermässig hoch, aber ich habe das Glück, dass mein Lebensstil nicht viel kostet. Gerade diesen Schritt sehe ich letztendlich als Chance – die Chance, mich ganz dem Fechten zu widmen.

«Ist es an der Zeit, alles aufzugeben? Ich stehe kurz davor.» (Keystone-ATS)
3. In meiner Bubble
April 2024. Diesmal konnte ich mich für das europäische Zonenturnier für die Olympischen Spiele in Paris qualifizieren. Schon mal besser als in Tokio, aber entschieden ist damit noch nichts. Von den 24 Teilnehmerinnen wird nur die Siegerin nach Frankreich fahren. Zur Vorbereitung hat mein Trainer Paul Fausser, der mich sehr gut kennt, beschlossen, ein kleines Trainingslager fernab der Schweiz zu organisieren – nur für uns, um eine Art Bubble um mich herum zu schaffen. Genau das brauchte ich zu diesem Zeitpunkt.
Am Wettkampftag bin ich noch immer in dieser Blase. Ich stelle mir nicht allzu viele Fragen, sondern schaffe es, meine Gedanken auszuschalten – ideale Voraussetzungen, um Leistung zu bringen. Trotzdem bekomme ich im Halbfinale einen Schreck: In der Pause liege ich gegen meine Gegnerin zurück. Paul weiss, dass es jetzt um alles oder nichts geht. Er kommt zu mir und schimpft auf fast schon gemeine Art auf mich ein: «Was glaubst du eigentlich, was du hier machst? Willst du nun zu den Olympischen Spielen oder nicht?» Das rüttelt mich wach und ich gewinne schliesslich den Kampf. Wie gesagt, Paul kennt mich genau: Manchmal bringt es nichts, mich mit Samthandschuhen anzufassen. In diesem Moment war es vor allem wichtig, dass ich meine Aggressivität steigere: Es war der perfekte Schachzug von ihm.

Im Gespräch mit ihrem Trainer Paul Fausser. (Keystone-ATS)
Am Ende gewinne ich das Turnier. Beim letzten Treffer reisse ich mir meine Maske vom Gesicht und schreie aus voller Kehle. Beim Fechten machen das alle – ich glaube, es hilft, die angestaute Konzentration und Spannung loszulassen. Meine Freude in diesem Moment ist überwältigend, die grösste meiner bisherigen Karriere. Endlich habe ich mein Ticket für die Olympischen Spiele.
4. Paris: Schnell, schnell, schnell
Juli 2024. Die zwei Monate seit meiner Qualifikation sind wie im Flug vergangen. Normalerweise habe ich, abgesehen von einigen Telefonaten mit Journalistinnen und Journalisten aus Neuenburg, nicht viel mit den Medien zu tun. Diesmal gibt es deutlich mehr Anfragen und ein grösseres Interesse von allen Seiten. Auch vor Ort geht alles sehr schnell. Ich bin die erste Schweizer Athletin, die im olympischen Dorf eintrifft, eine Woche vor meinem Wettkampf. Aber es gibt so viel zu tun, dass ich kaum Zeit für mich habe. An einem Tag besuchen wir den Grand Palais, den Austragungsort der Fechtwettkämpfe. Das Gebäude ist unglaublich, es ist wunderschön und auch ein wenig verrückt, seine schiere Grösse ist fast schon überwältigend.
Mein Wettkampf findet am 27. Juli statt, einen Tag nach der Eröffnungsfeier, an der ich deshalb nicht teilgenommen habe. Ich trete gegen die Amerikanerin Hadley Husisian an. Eigentlich weiss ich genau, wie ich ihr begegnen müsste, doch es gelingt mir nicht, meinen Plan umzusetzen. Der Spielstand ist knapp und der dreiminütige Kampf endet mit 11:11 unentschieden. Die Entscheidung wird also durch einen einzigen Treffer fallen.
Die einminütige Verlängerung beginnt, die Spannung ist auf ihrem Höhepunkt. Leider trifft mich meine Gegnerin nach 16 Sekunden als Erste. Wegen eines einzigen Treffers zu verlieren, ist emotional immer hart. Aber hier, bei den Olympischen Spielen, ist es noch schlimmer.
Ich bin froh, dass meine Familie, Freundinnen und Freunde da sind, um mich aufzufangen und zu trösten. Trotzdem falle ich in eine Art Loch. Alles ging so schnell und ich kann kaum glauben, dass das, was ich erlebt habe, wirklich passiert ist. Eines Abends schaue ich mir allein den Schwimmwettkampf an, ich bin immer noch deprimiert. Dann kehre ich in die Schweiz zurück und verfolge die Olympischen Spiele im Fernsehen. Ich sehe mir als Fan alle Sportarten an, ausser Fechten. Theoretisch könnte ich am 11. August nach Paris zurückkehren, um an der Abschlussfeier teilzunehmen. Aber ich habe keine Lust dazu. Ich fahre lieber in die Berge und mache andere Dinge.
Ein paar Wochen später stresst mich der Gedanke, wieder mit dem Training anzufangen. Werde ich die Lust wiederfinden? Die Antwort lautet: Ja! Nach einem Monat Pause bin ich wieder motiviert. Es geht wieder los.

Pauline Brunner (links) bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris im beeindruckenden Grand Palais. (Keystone-ATS)
5. Gemeinsam ist es noch besser
Juni 2025. Europameisterschaft in Genua, Italien. Zusammen mit Fiona Hatz und den Schwestern Aurore und Angeline Favre nehme ich am Teamwettbewerb teil. Es wird der letzte für unseren Nationaltrainer Paul Fausser sein, der sich für einen Neuanfang entschieden hat.
Nach und nach wird uns klar, dass die Sterne günstig stehen: Wir haben einen sehr guten Tag. Und auf unserem Niveau brauchen wir genau das, wenn wir die Besten schlagen wollen. Ausserdem ist die Stimmung im Team sehr gut: Wir teilen den Stress und lachen gemeinsam. Wir erzielen einen Sieg nach dem anderen und verlieren erst im Finale gegen die Ukraine. Das bedeutet Silber!
Wenn ich im Team antrete, spüre ich mehr Druck als im Einzelwettbewerb, denn ich kämpfe nicht nur für mich selbst. Aber wenn man als Team gewinnt, sind die Emotionen um ein Vielfaches stärker. Dieser Moment ist wunderschön.
Dass wir Pauls letzten Wettkampf mit einer Medaille krönen konnten, erfüllt uns mit noch grösserer Freude. Ich habe nur ein paar Jahre mit ihm zusammengearbeitet, kenne ihn aber schon lange, seit seiner Zeit in La Chaux-de-Fonds. An seiner Seite habe ich meine schönsten Momente im Fechtsport erlebt. Mit der Zeit wurde er für mich mehr als nur ein Trainer – er wurde ein echter Freund. Elf Jahre nach meinem Juniorentitel bin ich überglücklich, diese neue Europameisterschaftsmedaille mit ihm und meinen Teamkolleginnen zu teilen.

«Im Team sind die Emotionen um ein Vielfaches stärker.» (v.l.n.r.) Fiona Hatz, Aurore Favre, Angeline Favre und Pauline Brunner gewinnen bei der Europameisterschaft 2025 die Silbermedaille im Degenfechten. (Keystone-ATS)
Ohne Wettbewerb kein Spass
Ich sagte anfangs, dass ich im Laufe meiner Karriere Höhen, aber auch Tiefen erlebt habe. Ja, es gab schwierige und schmerzhafte Momente – und finanziell ist es nicht einfach, von diesem wenig beachteten Sport zu leben. Und dennoch fechte ich weiter – fast 25 Jahre, nachdem ich als Kind angefangen habe. Man kann sich durchaus fragen, warum.
Beim Fechten gilt: Je mehr ich nachdenke, desto schlechter bin ich. Im Gegensatz bin ich umso besser, je mehr ich meiner Intuition vertraue. Und ich glaube, dass ich im Leben auch ein bisschen so funktioniere: Ich versuche, den Moment zu geniessen und nach vorne zu schauen, ohne mir zu viele Fragen zu stellen. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, die mich dazu gebracht haben, nie aufzuhören – neben meiner Liebe zum Fechten natürlich.
Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, der meinen Werdegang erklärt. Ich liebe den Wettkampf und die damit verbundenen Emotionen – egal ob gute oder schlechte. Diese Emotionen spüre ich im Alltag nicht – oder sie berühren mich nicht auf die gleiche Weise. Das ist es auch, was mich täglich weitermachen lässt und voranbringt. Und jetzt werde ich alles geben, um in Los Angeles 2028 grosse Emotionen zu erleben!»
Das Gespräch führte Fabio Gramegna, Medienteam von Swiss Olympic

(Keystone-ATS)
Die Fechterin Pauline Brunner wurde im Dezember 1994 im Kanton Neuenburg geboren und übt die Disziplin Degenfechten aus. Zu ihren internationalen Erfolgen zählen insbesondere ein Junioren-Europameistertitel 2014, zwei Weltcup-Podestplätze 2024 und eine Silbermedaille bei den Europameisterschaften 2025 im Teamwettbewerb. Nachdem 2021 in Tokio keine Schweizerin dabei war, nahm sie 2024 zusammen mit Alexis Bayard aus dem Wallis an den Olympischen Spielen in Paris teil. Im September 2025 belegt sie Platz 27 der Weltrangliste.