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Die Trainerin, die gar keine sein wollte
Was in ihrer Kindheit auf einem Pausenhof im thurgauischen Horn begann, hat sie bis an die Seitenlinien Afrikas geführt: Nora Häuptle erlebt als Nationaltrainerin den Frauenfussball in Sambia. Hier erzählt sie von ihrem Leben zwischen Kulturen und Herausforderungen.
«Wenn ich mit dem Frauen-Nationalteam in Sambia bin, wohne ich im Hotel. Von dort aus geht’s dann jeweils zu den Trainingsplätzen – zumindest meistens. Es kam nämlich auch schon mal vor, dass wir am Strassenrand auf den Bus warteten, der uns eigentlich abholen sollte. Und der dann einfach nicht auftaucht. Da mussten wir spontan umplanen und manchmal fällt das Training eben aus. Ein eigenes nationales Trainingszentrum haben wir nicht, deshalb trainieren wir auf ganz unterschiedlichen Plätzen: mal auf Kunstrasen, mal auf Sand. Das gehört einfach dazu. Solche Dinge kann man nicht ändern – man muss sie nehmen, wie sie kommen, und das Beste daraus machen.
Doch in Sambia herrscht eine riesige Begeisterung für Fussball: Beim letzten siegreichen Qualispiel für den Afrika-Cup Ende Oktober waren über 30'000 Leute in unserem Stadion, eine fantastische Stimmung. Das Nationalteam der Frauen ist erfolgreicher als jenes der Männer. Die Frauen waren beispielsweise vor den Männern an einer Weltmeisterschaft oder den Olympischen Spielen. Ich habe das Gefühl, das Volk identifiziert sich eher mit den Frauen, weil sie näher an der Realität der Leute sind. Die Diskrepanz zu den Männern ist gross. Als ich in Ghana Trainerin des Frauen-Nationalteams war, spielten manche Männer bei Topclubs in England oder Spanien, waren Stars. Diese Spieler flogen mit dem Privatjet in die Heimat, für die Einheimischen sind solche Spieler nicht nahbar.
2024: Häuptle feiert mit den «Black Queens», dem Nationalteam von Ghana (zvg)
Wenn wir bei den Frauen auf dem Platz leiden und mal verlieren, dann wird uns eher verziehen als jemandem, der plump gesagt eine Rolex trägt und einen Ferrari fährt. Klar, auch wir müssen die Resultate bringen. Aber man darf gleichzeitig die Identifikation mit dem Land und den Leuten nie verlieren. Ich bin überzeugt, darin sind Frauenteams stark: Sie tragen die Werte des Volkes auf den Platz und leben sie.
In meiner Kindheit habe ich mir darüber natürlich noch keine Gedanken gemacht. Wie so viele habe ich auf der Strasse und dem Pausenhof angefangen Fussball zu spielen - mit meinen älteren Brüdern. Ich wollte unbedingt besser sein als sie, das war mein Ansporn. Das Schöne war: Als Kind wurde ich nur aufgrund meiner Leistung beurteilt und nicht, ob ich jetzt ein Mädchen oder ein Junge war. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als man mir mit 14 Jahren beim FC St. Gallen-Staad sagte, dass ich künftig bei den Frauen spielen musste, weil ich reglementarisch bei den Jungs nicht mehr mitspielen durfte. Das hat mich eigentlich mehr genervt als gefreut. Bis dahin hatte ich immer mit den Jungs Fussball gespielt, weil es gar keine Mädchenteams gab. Ich fand es toll, habe enorm profitiert und wurde gefordert. Seitdem hat der Mädchen- und Frauenfussball eine enorme Wandlung durchgemacht. Von dieser völlig unorganisierten Struktur in meiner Jugend bis zur fast Halb-Profistruktur heute ist schon einiges gegangen.
Nora Häuptle (unten ganz links) 1994 bei den D-Junioren des FC Goldach (zvg)
«Du machst noch was Richtiges»
Ich hatte beispielsweise nie jemanden, zu dem ich hochschauen konnte; es gab fast keine Vorbilder. Heute ist das anders. Man kennt Lia Wälti, Megan Rapinoe oder Marta. Fussballerin war damals kein anerkannter Beruf. Ich komme aus einer Akademiker-Familie und da hiess es immer: «Nora, du kannst schon Fussball spielen, aber du machst noch etwas Richtiges».
Mit 16 Jahren flog ich in die USA und besuchte an der Frauen-WM 1999 einige Spiele. Als ich in San Francisco vor einem Riesenposter von Mia Hamm, amerikanische Fussballspielerin und mehrfache Weltmeisterin, an einem Hochhaus neben einer Basketball-Werbung mit Michael Jordan stand, habe ich das erste Mal daran gedacht, dass es überhaupt was werden könnte mit Fussball.
Heute kommt plötzlich Geld in den Frauenfussballmarkt: Es gibt TV-Gelder, mehr Sponsoren und auch mehr Interesse. Es ist lukrativ, man erreicht so die anderen 50% der Bevölkerung. Und das ist nicht nur schlecht: Mehr Geld bedeutet natürlich auch bessere Löhne. Sobald Geld reinkommt, fängt aber auch Scouting an. Man sucht die Welt nach Spielerinnen ab, die noch bezahlbar sind. Obwohl es kein schöner Ausdruck für einen Mensch ist: Spielerinnen werden immer mehr zu Investmentobjekten, genau wie bei den Herren. Schon im jungen Alter werden sie gekauft und verliehen, um möglichst viel Profit zu machen. Am Ende bestimmt der Markt und das wird auch im Frauenfussball zu Veränderungen führen.
Neben dem Fussball hatte ich immer sehr viele andere Interessen und auch einen Freundeskreis fern vom Fussball. Es tat mir gut, auch mal aus dem Paradigma Leistungssport auszubrechen und dass sich nicht immer alles um den Match dreht. Mein Plan B neben dem Fussball hiess Unterrichten. Nach dem Sport- und Philosophiestudium absolvierte ich einen Lehrerinnenpatent an der Pädagogischen Hochschule Bern und konnte danach Stellvertretungen an Gymnasien übernehmen und so etwas Geld verdienen. Das war eine willkommene Abwechslung, auch weil der Lohn im Club und der Nati nicht riesig war.
Häuptle steuert 2009 einen Treffer zum Cupsieg des FC Rot-Schwarz Thun im Wankdorf bei. (zvg)
Wahrscheinlich brauche ich diesen Fuss noch
Doch dann kam 2009 eine schwere Fussverletzung und ich fragte mich, ob ich weiterhin Fussball spielen möchte. Ich kam zum Schluss: Wahrscheinlich brauche ich diesen Fuss noch für meine zweite Karriere als Sportlehrerin. Es kam dann anders, weil mir der damalige FC Thun Nachwuchschef Benjamin von Gunten anbot, Morgentrainings der U15-Jungsmannschaft zu leiten. Ich habe das wohl so gut gemacht, dass sie mich anstellten. Während dieser Zeit konnte ich meinen Werkzeugkoffer füllen und das Training perfektionieren. Das war zu dieser Zeit krass: eine Trainerin bei den Jungs. Er hatte den Mut, mir die Mannschaft anzubieten. Da kamen schon mal Eltern, die meinten: «Wenn mein Sohn bei einer Frau trainiert, dann wird er ja nie Profi». Da muss man schon etwas Rückgrat haben. So begann meine zweite Karriere als Trainerin und so endete meine Aktivzeit frühzeitig. Es braucht manchmal etwas Glück, das richtige Timing und Leute, die dein Potenzial erkennen. Ich hatte nie geplant, Trainerin zu werden, damals gab es diesen Beruf für Frauen praktisch noch nicht.
Nach Thun konnte ich während fünf Jahren als Trainerin des U19-Frauennationalteams der Schweiz arbeiten, habe dort das Talentprogramm mitaufgebaut und war an zwei U19-Europameisterschaften dabei. Da habe ich gemerkt: Ich entwickle gerne Potenzial. Dafür ist meine jetzige Station als Nationaltrainerin von Sambia, frech gesagt, eine Spielwiese. Das Potenzial ist dort wahnsinnig gross.
Häuptle (2. von rechts) mit ihrem Staff während einem Testspiel der Frauen U19. (Keystone-SDA)
Im Frauenfussball ist beispielsweise die Explosivität matchentscheidend. Deshalb sind Spielerinnen mit hoher Physis besonders beliebt. Meine Spielerin Barbra Banda, Kapitänin des sambischen Nationalteams, rennt beispielsweise Maximalgeschwindigkeiten wie ein durchschnittlicher Super League Spieler – das ist natürlich ein grosser Vorteil. Grundsätzlich sind die Spielerinnen aus afrikanischen Ländern nicht per se schlecht ausgebildet, auch wenn man das aus westlicher Perspektive oft verallgemeinert. Sie absolvieren vielleicht nicht die gleich professionellen Trainings und haben vielleicht insgesamt weniger Trainingsstunden. Aber durch die schwierigen Böden in Afrika sind sie technisch enorm gut: Sie gehen vom Schwierigen zum Einfachen. Das physische Element, gepaart mit einer feinen Klinge, das sind zwei Elemente, die sie auszeichnen.
Grosse Freiheit
Ich habe gelernt, im Hier und Jetzt zu sein und alles mit der Überzeugung zu tun, als wäre es für immer. Ich habe nicht schon die nächste Tür im Kopf, sondern versuche besonders präsent die Dinge zu erledigen, die jetzt anstehen. Es ist eine Phrase, aber man weiss nie, was morgen kommt. Das war in Ghana so und ist es jetzt auch in Sambia. In der Schweiz machen wir uns immer so viele Pläne und viel zu viele Sorgen.
Ich bin privilegiert, weil ich so eine grosses Auffangnetz in der Schweiz habe. Ich könnte als Lehrerin arbeiten, meine Eltern könnten mir aushelfen. Ich sage immer: Ich habe die Freiheit, in Sambia jedem ins Gesicht zu sagen, was ich wirklich denke, weil ich nicht Angst habe, meinen Job zu verlieren. Wenn ich entlassen werde, habe ich andere Möglichkeiten. Diese Freiheit erlaubt mir, klarer und direkter zu arbeiten. Ich muss mich nicht verbiegen oder etwas tun, das gegen meine Haltung spricht.
Häuptle mit ihrem Assistenztrainer im Training des sambischen Nationalteams. (zvg)
Es war natürlich ein intensiver Weg alle diese Trainerlizenzen zu absolvieren. Ich war die einzige Frau, immer nur mit Männern. Du hast immer das Gefühl, du musst alles perfekt machen, weil du eben eine Frau bist. Ich habe die Ausbildungen mit vielen Trainern absolviert, die heute zum Beispiel in der Bundesliga viel Geld verdienen. Als ich zum SC Sand in die Bundesliga ging, musste ich sogar draufzahlen, um die Chance zu erhalten, dort Trainerin zu sein. Ich war natürlich die einzige Frau in der gesamten Liga. Das zeigt die grosse Diskrepanz. Aber ich sehe es positiv: Ich hatte die Chance, das überhaupt machen zu können.
Entlassen in die Selbstreflexion
In der Bundesliga wurde ich auch zum ersten Mal entlassen. Ich brauchte Zeit, das aufzuarbeiten. Ein Jahr lang habe ich alles gegeben und dann war auf einmal alles weg. Klar, die Resultate waren ungenügend (8 Punkte in 18 Ligaspielen), aber die erste Entlassung ist prägend. Man beginnt, zu sich selbst zurückzukommen und sich weiterzuentwickeln: Was sind meine Werte? Wie bin ich aufgewachsen? Was treibt mich an? Welche Stärken möchte ich weiterentwickeln? Das hat mir sehr geholfen, den Alltag als Nationaltrainerin in Ghana und jetzt auch in Sambia zu bewältigen. Ich habe mich in der Menschenführung stark weiterentwickelt. Wie kann ich balanciert bleiben in diesem hoch-emotionalen, teils schwierigen Umfeld? Wie kann ich Dinge auf das Wesentliche reduzieren? Die Schweizer Herangehensweise funktioniert in Afrika nicht. Du wirst immer wieder gezwungen, dich weiterzuentwickeln. Und ich glaube: Nur, wenn du balanciert bist, dich gut reflektieren und gut reduzieren kannst, bist du eine gute Trainerin. Denn du bist der Leuchtturm in diesem Umzug.
Häuptle bejubelt im Oktober 2025 nach einem 3:0 gegen Namibia mit ihren Spielerinnen Prisca Chilufya (links) und Racheal Kundananji (rechts) die Qualifikation für den Afrika-Cup. (zvg)
Ich musste sicher auch lernen, mich abzugrenzen und nicht alles zuzulassen. Wenn ich mich in Sambia empathisch treiben lasse, dann sehe ich unendlich viel Elend. Auch hier musste ich meine Balance und meinen Einflusskreis finden. Ich kann nicht die ganze Welt retten und es ist zugleich eine Bereicherung, eine andere Kultur kennenzulernen. Es treffen verschiedene Werte aufeinander, manchmal gibt es Schnittmengen, aber auch Grenzen. Diese musst du erkennen und respektieren. Beim Thema Rassismus oder Gender versuche ich in meinem Leben, nicht zu fest durch diese Brille zu schauen: Ich überlege nicht, ob ich als Frau jetzt mit einem Mann spreche oder welche Hautfarbe mein Gegenüber hat. Genau wie ich eigentlich auch nicht zwischen Frauen- und Männerfussball unterscheiden will, sondern einfach in der Kategorie Fussball denke.
Ich muss mir auch jeweils Zeit geben, um den physischen Raumwechsel zu vollziehen. Aus der Schweiz nach Sambia zu reisen und die unterschiedlichen Realitäten zu erleben, das tut immer wieder etwas mit mir. Ich bin glücklicherweise immer längere Phasen an einem Ort und habe genug Zeit, mich an das jeweils andere Umfeld zu gewöhnen – klimatisch, kulturell und sprachlich. Und ich bin sehr gut verankert in der Schweiz: Hier ist meine Familie, mein Anker, meine Balance und das gibt mir Sicherheit und Ruhe, alles zu bewältigen.»
Nora Häuptle (42) ist seit Januar 2025 Trainerin des sambischen Frauennationalteams. Aufgewachsen ist sie am Bodensee in Horn. Als Spielerin lief sie unter anderem für den FC St. Gallen-Staad, den BSC Young Boys, den FFC Zuchwil 05, den FC Twente Enschede und den FC Rot-Schwarz Thun auf und war Schweizer Nationalspielerin. Parallel zu ihrer aktiven Karriere absolvierte sie einen Master in Sportwissenschaften und eine Ausbildung zur Lehrerin. Nach Trainerstationen im Nachwuchs des FC Thun und bei der Schweizer U19-Nationalmannschaft wechselte sie 2020 zum SC Sand in die deutsche Bundesliga. Von 2022 bis 2024 war sie Nationaltrainerin des ghanaischen Frauenteams. Sie lebt in Bern.
Aufgezeichnet von Loïc Schwab, Medienteam von Swiss Olympic